An einer Konferenz am Europarat in Strassburg haben zahlreiche europäische Länder Massnahmen zur Aufarbeitung und Verhinderung von Kindesmissbrauch vorgestellt. Die UN-Sonderbeauftragte lobte dabei die Schweiz als Vorbild. Bundesrat Beat Jans, das Bundesamt für Justiz und die Guido Fluri Stiftung zeigten auf, wie Aufarbeitung funktionieren kann.
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6. Dezember 2024
Die erfolgreiche Wiedergutmachungsinitiative der Guido Fluri Stiftung und das zugehörige Schweizer Aufarbeitungsgesetz (AFZFG) haben international für Aufsehen gesorgt. Opfergruppen aus ganz Europa haben nach dem Muster der Schweizer Wiedergutmachungsinitiative die europäische «Justice Initiative» gegründet, welche seither erfolgreich am Europarat für eine Aufarbeitung nach Schweizer Vorbild lobbyiert. So hat die parlamentarische Versammlung des Europarates in diesem Jahr ohne Gegenstimme einer Resolution zugestimmt, wonach die Mitgliedstaaten die Missbräuche in ihren Ländern anerkennen sollen, den Betroffenen eine Wiedergutmachung zukommen lassen, eine umfassende Aufarbeitung an die Hand nehmen und die Prävention verbessern sollen. «In Europa darf der Missbrauch von Kindern, ob sie nun Opfer von Sexualstraftätern, grundloser Gewalt oder Misshandlung in öffentlichen, privaten oder religiösen Einrichtungen, die eigentlich sichere Häfen sein sollten, nie wieder ignoriert werden», heisst es in der Resolution 2533 des Europarates. «Diese Resolution ist ein Meilenstein für Europa», so Guido Fluri, Präsident der Justice Initiative: «In der Schweiz wurde dank der konsequenten Aufarbeitung bei 12’000 Missbrauchsbetroffenen ein Stück Gerechtigkeit wiederhergestellt. Jetzt ist es an der Zeit, dass auch die Überlebenden von Missbrauch im Rest von Europa Gerechtigkeit erfahren.»
Schweizer Justizminister Beat Jans fordert Mitgliedsstaaten zum Handeln auf
In vielen Ländern Europas steht die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle noch ganz am Anfang. Über 100 Minister:innen, Botschafter:innen, politischen Abgeordnete, NGOs und Missbrauchsbetroffene aus ganz Europa haben sich darum heute am Europarat versammelt, um an einer Tagung vom Schweizer Knowhow zu profitieren. Justizminister Beat Jans begrüsste ausdrücklich, dass sich die Länder des Europarats der schwierigen Thematik angenommen hätten. Denn: «Das Wohl der Kinder zu schützen und zu fördern, ist eines der wichtigsten und nobelsten Dinge, für die man sich politisch überhaupt engagieren kann», so der Justizminister und weiter: «Sie haben es in der Hand, denn als Politikerinnen und Politiker können Sie Recht schaffen und es auch ändern. Mit dem Hinschauen, Zuhören, Aufarbeiten von Kindsmissbrauch und einem verbesserten Schutz der Kinder können Sie viel zur Stärke Ihres Landes beitragen.»
Missbrauch wird bisher meist nicht aufgearbeitet - dringender Handlungsbedarf in Europa
Aufarbeitung tut dringend Not. Die Justice Initiative hat eine Studie der Partnerorganisation Protect Children mit 22 000 Teilnehmenden und einem Schwerpunkt in Europa unterstützt, welche zum Schluss kommt, dass die meisten Missbräuche schwerwiegende Folgen haben, so unter anderem Depressionen, Beziehungsprobleme und Angststörungen. Viele Überlebende von Missbrauch berichten auch von erheblichen Hindernissen für die Offenlegung. Dazu gehören Schamgefühle, mangelnder Mut oder die Überzeugung, dass die Offenlegung nicht helfen würde. Obwohl 67 % der Opfer ihre Erlebnisse offenlegten, berichtete fast die Hälfte erst 11 Jahre nach der Gewalterfahrung darüber. Selbst nach der Offenlegung von sexueller Gewalt in der Kindheit haben 69 % der Überlebenden keine Unterstützung erhalten, und 89 % berichten, dass die Offenlegung nicht zu einer polizeilichen Untersuchung geführt hat. Die Resolution 2533 des Europarates, welche eine umfassende Aufarbeitung verlangt, sei darum dringend notwendig, so die Studienmacher:innen von Protect Children.
Erste Aufarbeitungen in internationaler Politik gemäss Resolution und Schweizer Vorbild
An der Tagung traten mehrere Minister:innen und Politiker:innen auf, welche eine Aufarbeitung nach Schweizer Vorbild vorantreiben wollen. So beispielsweise die französische Abgeordnete Karine Lebon, welche in den kommenden Wochen einen Gesetzesvorstoss eingeben wird, damit die Kinder der Insel La Réunion, die von ihren Familien getrennt wurden und dabei oftmals massive Gewalt erfahren haben, eine Entschädigung erhalten: «Ohne Wiedergutmachung gibt es keine Gerechtigkeit», so die französische Abgeordnete, welche die Schweizer Lösung in ihrem Gesetzestext mitdenkt. Adnan Delić, Minister für Arbeit und Sozialpolitik der Föderation Bosnien und Herzegowina, kündigte eine Verbesserung des Kindesschutz-Systems durch eine Gesetzesänderung an: «Zu unseren Schwerpunkten gehört die Stärkung des Pflegekinderwesens durch Gesetzesänderungen, und in der Einrichtung einer Aufsichtsbehörde sehen wir eine Möglichkeit, die Rechte der Kinder, ihre Sicherheit und ihren Schutz vor Gewalt, insbesondere in Langzeit-Sozialeinrichtungen, angemessen zu überwachen.»
Lob der UN-Sonderbeauftragten für Schweizer Modell der Aufarbeitung
Dr. Najat Maalla M’jid, die UN-Sonderbeauftragte zu Gewalt gegen Kinder, hatte für solche Initiativen lobende Worte: «Wir wissen, dass die Unterbringung in Heimen die Kinder verschiedenen Formen von Gewalt aussetzen und zu schlechten und lang anhaltenden Ergebnissen für die Kinder führen kann.» Darum sei die Resolution des Europarates, die eine Aufarbeitung der Missbrauchsfälle nach Schweizer Vorbild fordert, so wichtig: «Ich begrüsse die in dieser Resolution enthaltenen Leitlinien zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder in öffentlichen, privaten und religiösen Einrichtungen», so die UN-Sondergesandte in ihrer Rede.
Developing Teams – neue Impulse im Umfeld der katholischen Kirche für das Safeguarding
Pater Hans Zollner SJ, Direktor des Instituts für Anthropologie der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom und der wichtigste Experte der katholischen Kirche im Bereich Kindesschutz, hat im Zusammenhang mit der Resolution 2533 des Europarates eine neue Initiative angekündigt. Neu sollen sogenannte «Developing Teams» mit Spezialist:innen vor Ort zusammenarbeiten. In Zusammenarbeit mit lokalen Fachleuten sollen in einem ersten Schritt in Bistümern Süd- und Südosteuropas durch diese Developing Teams jene Faktoren evaluiert werden, die sich positiv auf die Konzeption und Umsetzung von Safeguardingmassnahmen vor Ort auswirken. Dabei geht es um den Schutz von Kindern vor sexualisierter Gewalt und um Safeguarding, d.h. das Schaffen von sicheren Räumen und Beziehungen. Dies ist ein Novum. Die Ergebnisse der Untersuchungen und die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen für eine praktische Verbesserung von Effektivität und Effizienz des Safeguarding werden einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt werden. Die Kosten für den Aufbau und die ersten Untersuchungen der lokalen Developing Teams werden von der Guido Fluri Stiftung getragen.