«Die Wiedergutmachungsinitiative gibt ein Stück Gerechtigkeit und Würde zurück – den Überlebenden, aber letztlich auch denjenigen Verdingkindern und Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, die nicht mehr unter uns sind.»
Guido Fluri, Urheber der Wiedergutmachungsinitiative
Rohner, Markus (2006): Im Namen des Anstands sterilisiert (NZZ vom 1. Oktober 2006).
Strebel, Dominique (2008): „Was die mit uns gemacht haben!“ (Beobachter 20/2008).
Strebel, Dominique (2011): Schweiz verweigert Wiedergutmachung (Beobachter 3/2011).
Hostettler, Otto; Strebel, Dominique (2011): Man nahm ihnen sogar das Sparbüchlein (Beobachter 21/2011).
Hostettler, Otto; Strebel, Dominique (2011): Verdingkind Rolf Horst Seiler lebte 40 Jahre draussen im Wald (Beobachter vom 12. Oktober 2011).
Hostettler, Otto (2012): Düstere Jahre (Beobachter 10/2012).
Hostettler, Otto; Föhn, Markus (2012): Gebt mir mein Kind zurück (Beobachter 25/2012).
Grossried, Beat (2012): „Das war haarsträubend“ (Beobachter 10/2012).
Überforderte Ingenbohler Schwestern quälten Zöglinge (Leserkommentar in der Südostschweiz vom 23. Januar 2013)
Schwierige Vergangenheitsbewältigung (Bayern 2 vom 10. Dezember 2013).
Biographie von Willy Mischler: Falsche Gnade für Nonnen (Beobachter vom 8. Februar 2013).
Hostettler, Otto (2014): Die Menschenversuche von Münsterlingen (Beobachter 3/2014).
Murith, Vincent (2014): Sur les traces d’un passé douloureux (La Liberté vom 27. Januar 2014).
Ehemalige Verdingkinder als Zeitzeugen einer bitteren Kindheit (Verein netzwerk-verdingt).
Anfang der 1970er Jahre war Guido Fluri selbst im Kinderheim Mümliswil im Kanton Solothurn untergebracht. Sein persönliches Schicksal bewegte ihn dazu, sich mit der Guido Fluri Stiftung für die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen einzusetzen. So wurde im Jahr 2010 das Projekt Kinderheime Schweiz lanciert, welches die Geschichte der Fremdplatzierung in der Schweiz aufarbeiten sollte. Projektleiter war der promovierte Historiker Thomas Huonker, der mit seiner Recherche wichtige Pionier- und Aufklärungsarbeit leistete.
Dank der Wiedergutmachungsinitiative wurde das dunkle Kapitel der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, das über Jahrzehnte hinweg tabuisiert worden war, umfassend wissenschaftlich aufgearbeitet und damit endlich Teil der Schweizer Geschichtsschreibung. Zudem haben zahlreiche Verdingkinder und andere Missbrauchsopfer einen Solidaritätsbeitrag zugesprochen bekommen. Über 10'000 Betroffene haben ein Gesuch gestellt und erfahren damit noch zu Lebzeiten eine offizielle Anerkennung für das erlittene Unrecht. Sie stehen stellvertretend für all die Hunderttausenden Opfer von Zwangsmassnahmen, die diesen historischen Moment nicht mehr erleben durften. Joachim Eder, FDP-Alt-Ständerat und Mitglied des Initiativkomitees, bezeichnete die Wiedergutmachungsinitiative daher zurecht als «Sternstunde der Schweizer Politik».
Die Wiedergutmachungsinitiative führte aber auch zu einer gesellschaftlichen Aufarbeitung. Das Thema wird heute im Schulunterricht behandelt und an Universitäten werden Arbeiten und Dissertationen darüber geschrieben. Auch zahlreiche Bücher und Filme («Der Verdingbub») sind erschienen. Vor allem aber begannen Betroffene, endlich ihre Geschichten zu erzählen. Mit dem Ziel, dass all dies nie mehr passiert.
Die Initiantinnen und Initianten danken allen, welche die Wiedergutmachungsinitiative unterstützt und den Gegenvorschlag möglich gemacht haben. Dem Unterstützungskomitee traten nach und nach Politikerinnen und Politiker aus allen Parteien bei. Die Volksinitiative wurde von namhaften Exponenten der Wissenschaft, von ranghohen Amtsträgern beider Landeskirchen, aber auch von Bauernvertretern sowie bedeutenden Schweizer Kulturschaffenden unterstützt.
Wenn Sie Fragen zum Solidaritätsbeitrag haben, wenden Sie sich bitte an den Fachbereich FSZM des Bundesamtes für Justiz
Tel. 058 462 42 84 (Telefonzeiten: Montag bis Freitag 09.00-12.00 Uhr)
sekretariat@fuersorgerischezwangsmassnahmen.ch
www.fszm.ch
Es ist ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte, welches über Jahrzehnte hinweg tabuisiert worden war: Die Praxis der so genannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Bis in die 1980er-Jahre hat sie enormes Leid über die Betroffenen gebracht. Zu den Opfern zählten vor allem Menschen, die den früheren gesellschaftlichen und moralischen Wertvorstellungen nicht entsprachen, arm oder randständig waren. Dazu gehörten die folgenden Gruppen. Gemeinsam ist ihnen allen das grosse Unrecht, das sie erlitten haben. Darum brauchte es die Wiedergutmachungsinitiative. Für die Opfer. Für die Schweiz.
In der Schweiz wurden bis weit ins 20. Jahrhundert Kinder auf Dorfplätzen versteigert und verdingt. Jährlich wurden Zehntausende Kinder vorwiegend aus verarmten Familien oder aus Waisenhäusern von den Behörden abgeholt und auf Bauernhöfe verteilt. Dort wurden viele zur Kinderarbeit gezwungen, als Dienstmagd oder Verdingbub ausgebeutet, teilweise schwer misshandelt oder sexuell missbraucht. Viele Kinder starben aufgrund der körperlichen Anstrengungen und Missbräuche. Die meisten Verdingkinder haben schwere Beeinträchtigungen davongetragen. Sie leiden bis heute unter den Entwürdigungen, Peinigungen und den schweren Misshandlungen, die sie in ihren Jugendjahren erleben mussten.
Hostettler, Otto; Strebel, Dominique (2011): Man nahm ihnen sogar das Sparbüchlein (Beobachter 21/2011).
In staatlichen, kirchlichen und privaten Heimen wurden Tausende Kinder systematisch gedemütigt, gezüchtigt, körperlich misshandelt und teilweise auch sexuell missbraucht. Auf Kosten der Schulbildung wurden viele Heimkinder zur Kinderarbeit gezwungen und ausgebeutet. Weil es an konsequenten staatlichen Kontrollen fehlte, waren die Kinder in diesen geschlossenen Institutionen ihrem Schicksal schutzlos ausgeliefert. Die Missbrauchsfälle wurden in den meisten Fällen nicht geahndet. Viele ehemalige Heimkinder berichten von traumatischen Erlebnissen, von Gewalt und Folter.
Hostettler, Otto (2010): Düstere Jahre (Beobachter 10/2012).
Bis anfangs der 1980er-Jahre wurden Jugendliche und junge Erwachsene ohne Schuldspruch und Gerichtsurteil administrativ versorgt. Die jungen Männer und Frauen wurden zur „Arbeitserziehung“ in geschlossene Anstalten und Gefängnisse eingewiesen, weil sie ein angeblich „liederliches Leben“ führten oder als „arbeitsscheu“ eingestuft wurden. Auch Frauen, denen man beispielsweise einen „lasterhaften Lebenswandel“ unterstellte, wurden weggesperrt, etwa im Frauengefängnis Hindelbank. Weil die administrativrechtlichen Versorgungen der Ratifizierung der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK entgegenstanden, wurde die Praxis 1981 geändert. Das Unrecht wurde inzwischen öffentlich anerkannt. Das Parlament hat die administrativ Versorgten im Jahr 2014 „rehabilitiert“. Eine finanzielle Wiedergutmachung für das erlittene Leid ist jedoch nicht Teil des Rehabilitierungsgesetzes.
Strebel, Dominique (2008): „Was die mit uns gemacht haben!“ (Beobachter 20/2008).
In der Schweiz wurden bis in die 1980er-Jahre Zwangssterilisationen, Zwangskastrationen und Zwangsabtreibungen durchgeführt. Das „Einverständnis“ der Betroffenen verschafften sich Behörden und Ärzte oftmals durch Zwang oder Ausübung massiven Drucks. Fürsorgeempfängerinnen wurde etwa mit dem Entzug der Unterstützungsgelder gedroht. Abtreibungen wurde oftmals nur bewilligt, wenn die Frauen gleichzeitig in eine Sterilisation einwilligten. Auch mit der Einweisung in eine Anstalt wurde gedroht.
Das Parlament lehnte einen Vorstoss für eine Wiedergutmachungszahlung im Jahr 2004 ab. Fünf Jahre später, im November 2009, tadelte der Menschenrechtsausschuss der UNO in seinem dritten Menschenrechtsbericht die Schweiz, weil sie nichts getan habe, um die bis „1987 durchgeführten Zwangskastrationen zu entschädigen und anderweitig wiedergutzumachen“. Der Ausschuss empfahl der Schweiz, das „begangene Unrecht durch Formen der Genugtuung, einschliesslich einer öffentlichen Entschuldigung, wiedergutzumachen“. Dies ist bis heute nicht geschehen.
Strebel, Dominique (2011): Schweiz verweigert Wiedergutmachung (Beobachter 3/2011).
Unzählige Neugeborene wurden bis in die 1970er-Jahre durch Vormundschaftsbehörden von ihren unverheirateten Müttern getrennt. Weil die Frauen aus ärmlichen Verhältnissen stammten, angeblich ein „liederliches Leben“ führten oder aber weil ihre Männer Alkoholiker waren oder als „arbeitsscheu“ galten. Die Mütter wurden oft so stark unter Druck gesetzt, dass sie ihre Neugeborenen zur Adoption „freigaben“. In diesen Fällen spricht man von Zwangsadoption. Aufgrund des geltenden Adoptionsrechts ist es den Opfern dieser erzwungenen Adoptionen praktisch unmöglich, ihre Kinder wiederzufinden. Von den Behörden erhalten die Mütter keine Unterstützung bei der Suche nach ihren Kindern.
Hostettler, Otto; Föhn, Markus (2012): Gebt mir mein Kind zurück (Beobachter 25/2012).
Die Verantwortlichen des „Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse“ entrissen zwischen 1926 und 1973 rund 600 Kinder ihren Familien. Dabei handelt es sich um Kinder von Fahrenden, insbesondere von Jenischen. Das Ziel des „Hilfswerks“, das innerhalb der Stiftung Pro Juventute gegründet wurde, war letztlich die Zerstörung der Lebensform der Fahrenden. Die Kinder dieser Bevölkerungsgruppe sollten zu „sesshaften“ und „brauchbaren“ Menschen erzogen werden. Aufgrund dieser fürsorgerischen Zwangsmassnahmen kam enormes Leid über Hunderte von Menschen. Die entrissenen Kinder wurden meist in Heimen und Anstalten fremdplatziert, wo sie oft schwere Demütigungen und Misshandlungen erlebten. Die Wiedergutmachungsinitiative schliesst diejenigen Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen mit ein, die Ende der 1980er und anfangs der 1990er Jahre keine angemessene Wiedergutmachung der Stiftung zur Wiedergutmachung für die „Kinder der Landstrasse“ erhalten haben.
Grossried, Beat (2012): „Das war haarsträubend“ (Beobachter 10/2012).
An Hunderten von ahnungslosen Patienten wurden in Schweizer Psychiatriekliniken Medikamente getestet. Die medizinhistorische Aufarbeitung dieser Missbräuche steht erst am Anfang. Das Ausmass, das sich abzeichnet, ist erschreckend: Bis Ende der 1970er-Jahre wurden, mitunter für die Pharmaindustrie, Medikamente an Patienten getestet – selbst an Schwangeren und Kindern. Die Tests fanden unter ethisch höchst fragwürdigen und wissenschaftlich zweifelhaften Bedingungen statt. In den Akten finden sich keine Belege, dass die Versuchspersonen über die Medikamententests informiert worden wären. Viele Opfer dieser aktenkundigen Medikamentenversuche leiden noch heute unter den Folgen dieser massiven Eingriffe in ihre körperliche Integrität.
Hostettler, Otto (2014): Die Menschenversuche von Münsterlingen (Beobachter 3/2014).
In der Schweiz leben heute noch rund 20‘000 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Ihre körperliche, psychische oder sexuelle Integrität wurde schwer verletzt. Sie wurden verdingt, versorgt, zwangssterilisiert oder zwangsadoptiert. Die hier aufgeführten Einzelschicksale stehen exemplarisch für ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte.
Die 1954 geborene Bernadette Gächter kam als Kleinkind zu einer streng katholischen Pflegefamilie nach St. Margrethen. Mit sieben Jahren zweifelten ihre Pflegeeltern an ihrem Charakter und liessen sie von einem Psychiater untersuchen. Dieser attestierte dem Mädchen ein «infantiles hirnorganisches Psychosyndrom» (heute als Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ADS bekannt). Mit 18 Jahren wurde Bernadette Gächter schwanger, was einen Skandal in der Pflegefamilie auslöste. In der Folge reagierten Vormund, Pfarrer und Hausarzt. Letzterer kam in einem Gutachten zuhanden der Psychiatrischen Klinik Wil zum Schluss, dass Bernadette Gächter «mit ihrer abnormen Veranlagung» nicht in der Lage sei, ein Kind grosszuziehen und empfahl neben einer Abtreibung die Sterilisation der jungen Frau. Pflegeeltern, Hausarzt und der Klinikdirektor setzten sie so stark unter Druck, dass Bernadette Gächter schliesslich in den Eingriff einwilligte. Später versuchte sie mit zwei Operationen erfolglos, die Sterilisation wieder rückgängig zu machen. Bernadette Gächter blieb zeitlebens kinderlos.
Rohner, Markus (2006): Im Namen des Anstands sterilisiert (NZZ vom 1. Oktober 2006).
Clément Wieilly wurde 1954 im Kanton Freiburg geboren. Im Alter von drei Jahren wurde er seinen Eltern weggenommen und im Sanatorium von Pringy untergebracht. Anschliessend wurde er in das bürgerliche Waisenhaus von Freiburg verlegt, wo er die nächsten zehn Jahre fast täglich Opfer schwerster physischer und psychischer Gewalt wurde: Er erfuhr häufig Essensentzug und erhielt regelmässig Schläge mit dem Teppichklopfer. Zudem wurde sein Kopf mehrmals solange in kaltes Wasser gedrückt oder mit einem Kissen zugedeckt, bis er bewusstlos wurde. Seit seinem achten Lebensjahr wurde Clément Wieilly während den Ferien an verschiedene Bauern verdingt. All dies führte dazu, dass er nie eine richtige Ausbildung machen konnte. Seine Mutter sah er erstmals wieder, als sie mit 42 Jahren im Sterben lag. Erst als der Kanton Freiburg die Akten Betroffener freigab, konnte er seine Vergangenheit aufarbeiten. So erfuhr Clément Wieilly, dass seine Mutter die Behörden erfolglos um finanzielle Unterstützung für ihre Kinder anfragte. Ferner hatte er neben seinen Brüdern noch zwei ältere Schwestern, von denen eine früh verstarb. So erfuhr Clément Wieilly anhand der Akten auch, dass seinen Eltern 1957 ohne aktenkundige Begründung das Sorgerecht entzogen wurde. Clément Wieilly lebt heute in Armut und leidet immer noch unter den traumatischen Erlebnissen.
Murith, Vincent (2014): Sur les traces d’un passé douloureux (La Liberté vom 27. Januar 2014).
Hugo Zingg wurde 1936 als Sohn einer Arbeiterfamilie im Berner Mattequartier geboren. Nachdem er seine frühen Kindheitsjahre im Kinderheim Kleindietwil im Oberaargau verbracht hatte, wurde er 1942 auf einen Bauernhof im Gürbetal verdingt und zu schwerer Arbeit in Haus und Hof gezwungen. Zusätzlich war er der sadistischen Willkür der Bäuerin ausgeliefert. Die Schule konnte er wegen der vielen Arbeit nur unregelmässig besuchen; die Lehrpersonen wurden mit Gaben und Naturalien bestochen. Später wurde Hugo Zingg an einen Lehrmeister ins Seeland vergeben, wo er Spengler werden sollte. Stattdessen wurde er wieder ausgebeutet. Nach Auflösung des Lehrstellenverhältnisses durch die Lehrlingskommission kam Hugo Zingg über das Bächtelenheim in Wabern nach La Neuville, wo er als Laufbursche eines Milchhändlers erneut ausgebeutet wurde und in seiner freien Zeit in der Gärtnerei von dessen Sohn arbeiten musste. Seine Vergangenheit als bevormundetes Verdingkind blieb bis in die 1970er-Jahre ein berufliches Hindernis für Hugo Zingg. Erst als er begann, seine Vergangenheit als Verdingter bei Bewerbungen zu verheimlichen, ging es für ihn allmählich aufwärts.
Ehemalige Verdingkinder als Zeitzeugen einer bitteren Kindheit (Verein netzwerk-verdingt).
1960 wurde Michel Mischler kurz nach seiner Geburt den überforderten Eltern aus der Stadt Bern weggenommen und ins Kinderheim «Mariahilf» in Laufen gebracht. Dort verbrachte er die nächsten elf Jahre seines Lebens. Mangel an Aufmerksamkeit von Seiten der katholischen Klosterfrauen führte dazu, dass bei Michel eine Unterentwicklung unbemerkt blieb, welche eigentlich eine spezielle Betreuung notwendig gemacht hätte. Dadurch verpasste Michel Mischler den Anschluss in der Schule. Im Heim wurde er Opfer von schweren körperlichen und seelischen Misshandlungen. Michel Mischler wurde nächtelang auf dem Estrich eingesperrt, systematisch geschlagen, kopfüber in einen Kübel Wasser gesteckt, sodass er beinahe ertrunken wäre und regelmässig mit den Worten erniedrigt: «du chasch nüd, du besch nüd und us dir wird nüd». Nach seiner Kindheit im Heim gelang es Michel Mischler nie ein eigenständiges Leben zu führen.
Biographie von Willy Mischler: Falsche Gnade für Nonnen (Beobachter vom 8. Februar 2013).
Rolf Horst Seiler erlitt 1952 im Alter von neun Jahren eine Hirnhautentzündung, die seine Motorik und Konzentration zeitlebens einschränkte. Nach der Schulzeit wurde er als «arbeitsscheu» eingestuft und per Verfügung aus seinem Elternhaus verstossen. Weil er die Verfügung missachtete, kam er zwei Jahre lang in die Arbeitsanstalt für Schwererziehbare in Dielsdorf. Ohne Recht auf Rückkehr in sein Elternhaus, lebte Rolf Horst Seiler danach jahrzehntelang ohne Bleibe und unter lebensbedrohlichen Bedingungen im Wald, hauste in Erdhöhlen, der Kanalisation und kaufte sich Essen mit Pfandgeld von gesammelten Flaschen. Anstatt seine Invalidität anzuerkennen, verurteilten ihn die Gerichte unzählige Male als «uneinsichtigen Vagabund». Rolf Horst Seiler verbrachte etwa 15 Jahre in Anstalten, Gefängnissen und Zuchthäusern. Jahrelang besass er keinen amtlichen Ausweis. Erst im Jahre 1987 wurde die Meningitis und damit die Arbeitsunfähigkeit bei ihm amtlich diagnostiziert. 1979 wurde eine Frau von ihm schwanger. Als ihre Familie von Rolf Horst Seilers Vergangenheit erfuhr, verstiessen sie ihn erneut. Seine Tochter kam 1980 zur Welt. Er hat sie noch nie gesehen. Die Behörden weigern sich bis heute, ihm bei der Suche nach seiner Tochter zu helfen.
Hostettler, Otto; Strebel, Dominique (2011): Verdingkind Rolf Horst Seiler lebte 40 Jahre draussen im Wald (Beobachter vom 12. Oktober 2011).
Rudolf Züger wurde 1942 geboren. Er verbrachte viele Jahre in mehreren Heimen, wo er Opfer von Gewalt wurde: Im Bürgerheim von Altendorf SZ wurde Rudolf Züger regelmässig in einen Schweinestall gesperrt. Weil er Bettnässer war, wurde Rudolf Züger im St. Josefsheim in Bremgarten AG wiederholt Kopf voran solange in eine Badewanne mit eiskaltem Wasser gedrückt, bis er keine Luft mehr kriegte. Im Kinderheim St. Iddazell in Fischingen wurde Rudolf Züger immer wieder geschlagen. Noch heute fürchtet sich Rudolf Züger vor kaltem Wasser, hat Albträume, Panikattacken und Erstickungsanfälle.
Überforderte Ingenbohler Schwestern quälten Zöglinge (Leserkommentar in der Südostschweiz vom 23. Januar 2013)
Schwierige Vergangenheitsbewältigung (Bayern 2 vom 10. Dezember 2013).
Die Betroffenen haben grosses Unrecht erlitten. Um ein Stück Gerechtigkeit wiederherzustellen, lancierte die Guido Fluri Stiftung im Jahr 2014 die Wiedergutmachungsinitiative. Das waren ihre Forderungen:
Mit rund 110'000 gültigen Unterschriften kam die Initiative in Rekordzeit zustande. Der Bundesrat arbeitete nur einen Tag später einen indirekten Gegenvorschlag aus, in dem er die massgebenden Forderungen übernommen hatte. Neben der wissenschaftlichen Aufarbeitung sprach sich der Bundesrat auch für einen Fonds für Schwerbetroffene im Umfang von 300 Millionen Franken aus – was 200 Millionen Franken weniger war, als die von den Initiantinnen und Initianten geforderten 500 Millionen Franken.
Der indirekte Gegenvorschlag ging in die Vernehmlassung, wo er vom National- und Ständerat angenommen wurde. In der Schlussabstimmung wurde er vom Parlament verabschiedet, woraufhin das Initiativkomitee die Wiedergutmachungsinitiative zurückzog. Nur etwas mehr als zwei Jahre vergingen zwischen dem Start der Wiedergutmachungsinitiative und der Annahme des Gegenvorschlags – ebenfalls ein Rekord in der schweizerischen Politik. Mit über 10'000 Gesuchen für einen Solidaritätsbeitrag wurde die Wiedergutmachungsinitiative erfolgreich abgeschlossen.
Im Folgenden finden Sie eine Übersicht der grössten Meilensteine der Wiedergutmachungsinitiative:
Am 31. März 2014 lanciert ein überparteiliches Komitee die Wiedergutmachungsinitiative für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Diese Initiative soll die gesetzliche Grundlage für eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung sowie für eine finanzielle Wiedergutmachung schaffen. Für die rund 20‘000 schwer betroffenen Opfer will die Initiative einen Fonds von 500 Millionen Franken errichten. Daneben sollen die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Die Initiative unter der Leitung der Guido Fluri Stiftung wird von einem Komitee mit Politikerinnen und Politikern der FDP, BDP, CVP, EVP, GLP, Grünen und SP getragen. Auf dem Bundesplatz in Bern drücken gegen 100 Betroffene ihre Unterstützung für die Wiedergutmachungsinitiative aus.
Medienmitteilung zur Lancierung der Wiedergutmachungsinitiative, 31. März 2014
Der Start der Wiedergutmachungsinitiative ist erfolgreich. Die Initiative löst ein grosses Medienecho aus und erfährt enorm viel Sympathie. Mit einem Solidaritätsmarsch für Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen wird die Unterstützung zum Ausdruck gebracht. In mehreren Etappen marschieren Betroffene und Anhängerinnen und Anhänger von Bern bis nach Genf, wo der UNO eine Petition überreicht wird. Innerhalb weniger Monate unterstützen auch verschiedene Akteure aus Politik und Gesellschaft die Wiedergutmachungsinitiative. Dazu gehören die Gewerkschaft VPOD, die reformierte Kirchen Bern-Jura-Solothurn, der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer, die katholische Kirche sowie Vertreterinnen und Vertreter aller Parteien.
Am 19. Dezember 2014 reichen rund 200 ehemalige Verdingkinder und Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen die Wiedergutmachungsinitiative in Bern ein. Dank der breiten Unterstützung ist die Initiative am 13. Januar 2015 mit 108’709 gültigen Unterschriften zustande gekommen – eine Rekordzeit.
Mitteilung der Bundeskanzlei, Bern, 13. Januar 2015
Am 14. Januar 2015, nur einen Tag nach der Einreichung der Wiedergutmachungsinitiative, lässt der Bundesrat einen indirekten Gegenvorschlag ausarbeiten. Darin anerkennt er die zentrale Forderung und spricht sich erstmals auch für finanzielle Leistungen zugunsten ehemaliger Verdingkinder und Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen vor 1981 aus. Er will einen Fonds im Umfang von 300 Millionen Franken einrichten.
Am 24. Juni 2015 eröffnet der Bundesrat die Vernehmlassung zum Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981. Dabei anerkennt der Bundesrat, dass den Opfern schweres Unrecht zugefügt worden ist. Er will darum unter anderem einen Fonds im Umfang von 300 Millionen Franken einrichten. Dieser Solidaritätsfonds nimmt eine zentrale Forderung der Wiedergutmachungsinitiative auf. Die Vernehmlassung und die parlamentarischen Beratungen müssen diese anvisierte Lösung nun bestätigen und zeigen, dass der Wille zu einer umfassenden Aufarbeitung tatsächlich gegeben ist.
Gesetzesentwurf des Bundesrates, 24. Juni 2015
Erläuternder Bericht des Bundesrates, 24. Juni 2015
Medienmitteilung des Bundesrates, 24. Juni 2015
Eine Mehrheit der Parteien und Verbände begrüssen den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates:
Die Initiantinnen und Initianten nehmen Stellung zum indirekten Gegenvorschlag des Bundesrates. Dieser nehme in vielen Bereichen die Forderungen der Wiedergutmachungsinitiative auf – so etwa im Bereich der wissenschaftlichen Aufarbeitung, aber auch in der grundsätzlichen Anerkennung finanzieller Leistungen für die Schwerbetroffenen. Auch das Tempo, mit welchem der Bundesrat die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vorantreibe, wird begrüsst. Der vorgesehene Zahlungsrahmen für die Solidaritätsbeiträge sei mit 300 Millionen Franken jedoch zu knapp bemessen (die Wiedergutmachungsinitiative fordert 500 Millionen Franken für die schätzungsweise 20‘000 Opfer).
Stellungnahme des Initiativkomitees, 11. September 2015
In einer Botschaft zur Wiedergutmachungsinitiative und zum Gegenvorschlag vom 4. Dezember 2015 fordern die Initiantinnen und Initianten das Parlament dazu auf, anhand des Gegenvorschlags eine rasche und gerechte Lösung zu ermöglichen. Diese müsse auch substantielle Leistungen für die Tausenden von Opfern beinhalten. Ansonsten stünde ein Rückzug der Initiative nicht zur Diskussion.
Am 26. Februar 2016 spricht sich eine Mehrheit der Rechtskommission des Nationalrates für eine umfassende Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen aus.
Am 27. April 2016 stimmt der Nationalrat dem Gegenvorschlag des Bundesrates zu, welcher die massgebenden Forderungen der Wiedergutmachungsinitiative beinhaltet. Damit spricht sich der Nationalrat für eine umfassende Aufarbeitung sowie Solidaritätsbeiträge zugunsten der schwerbetroffenen Opfer vor 1981 aus. In einem historischen Entscheid am 15. September 2016 stimmt auch der Ständerat dem Gegenvorschlag des Bundesrats zu.
Protokoll des Nationalrats, Bern, 27. April 2016
Protokoll des Ständerats, 15. September 2016
In der Schlussabstimmung vom 30. September 2016 stimmt das Schweizer Parlament dem Gegenvorschlag des Bundesrates zur Wiedergutmachungsinitiative zu. Da der vorgesehenen Gegenvorschlag die massgebenden Forderungen beinhaltet und den betagten Opfern so schneller geholfen werden kann, zieht das Initiativkomitee die Wiedergutmachungsinitiative zurück.
Auf diesen Moment haben die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen lange gewartet – ab Dezember 2016 können die Anträge für einen Solidaritätsbeitrag eingereicht werden. Um eine Solidaritätszahlung in Anspruch zu nehmen, können Betroffene bis zum 31. März 2018 ein entsprechendes Gesuch beim Bundesamt für Justiz einreichen.
Am 15. Februar 2017 ist die Referendumsfrist gegen das Gesetz zur Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981 abgelaufen. Das Gesetz zur Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981 tritt am 1. April 2017 in Kraft. 1150 Gesuche von Opfern solcher Zwangsmassnahmen wurden bis dahin eingereicht.
Medienmitteilung des Bundesrats, 15. Februar 2017
Mehr Infos zum Solidaritätsbeitrag auf der Seite des Bundesamts für Justiz
Weiter zu den kantonalen Anlaufstellen
Am 3. April 2018 haben bereits über 8000 Betroffene ein Gesuch für einen Solidaritätsbeitrag eingereicht. Die Betroffenen erfahren damit eine offizielle Anerkennung für das erlittene Unrecht. Für die Initiantinnen und Initianten ist das Ende der Gesuchfrist der Anfang der Aufarbeitung. Die Guido Fluri Stiftung unterstützt auch weiterhin die Opfergruppen und engagiert sich mit dem Erzählbistro in einem Nachfolgeprojekt, das den Austausch unter den Betroffenen fördern soll.